Zum 100. Geburtstag des Betriebsrätegesetzes: Ergraute Eminenz
Februar 1920 schlug die Geburtsstunde des Betriebsrätegesetzes. Zum 100. Geburtstag stellen wir uns die Frage: Ist der Senior unter den Gesetzen nicht inzwischen in die Jahre gekommen? Unser Eindruck: Gerade in agilen Umfeldern sind zeitgemäßere Formen der betrieblichen Mitbestimmung gefragt. Wir haben dazu mit Experte Dr. Hagen Lesch, Leiter des Kompetenzfelds Tarifpolitik und Arbeitsbeziehungen beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), gesprochen.
Betriebsrätegesetz: Vor 100 Jahren eine echte Revolution
In seiner Entstehungszeit war das Betriebsrätegesetz revolutionär. Erstmals konnten Mitarbeiter die Geschäftsleitung mit Rat und Tat unterstützen. Betriebsräte wirkten bei der Einführung neuer Arbeitsmethoden mit, entwarfen Dienstvorschriften mit und verhandelten Tarifverträge aus. Auch der Unfall- und Gesundheitsschutz gehört seit jeher zu den klassischen Aufgaben eines Betriebsrates (BR).
Außerdem hat er hat Einblicke in Betriebsvorgänge, ein Mitspracherecht bei Einstellungen oder Entlassungen und Restrukturierungen. Er darf außerdem bei Ordnungs- und Verhaltensregeln im Unternehmen mitreden, bei Arbeitszeit- und Überstundenregelungen sowie bei der betrieblichen Lohngestaltung.
Ein bunter Strauß an Mitbestimmungsmöglichkeiten, den der Gesetzgeber Betriebsräten vor 100 Jahren da einräumte. Dennoch stellt sich die Frage: Ist das Konzept noch in allen Umfeldern zeitgemäß? Denn bei weitem hat nicht mehr jedes Unternehmen einen BR. „Ein Betriebsrat existiert gerade mal in 9 Prozent aller Betriebe mit mindestens fünf Mitarbeitern“, konstatiert Dr. Hagen Lesch, Leiter des Kompetenzfelds Tarifpolitik und Arbeitsbeziehungen beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) im IW-Kurzbericht 11/2020. „Während in kleineren und mittleren Betrieben selten ein Betriebsrat gewählt wird, ist er in Betrieben mit mehr als 500 Mitarbeitern Standard.“
Betriebliche Mitbestimmung: Deutschland ist zwiegespalten
Wenn es um die betriebliche Mitbestimmung geht, ist Deutschland also zwiegespalten, bestätigt uns Lesch im exklusiven Interview explizit. Während das Konstrukt BR bei den großen Playern noch „ganz gut“ funktioniere, scheint es in der Welt der kleinen und mittelständischen Betriebe und der Startups ein Auslaufmodell zu sein.
„Generell ist ein kollektives Vertretungsorgan jedoch gut“, sagt uns Dr. Hagen Lesch in diesem Zusammenhang, „denn so haben Beschäftigte ein Gremium, um ihre Anliegen oder Probleme zu artikulieren.“ Ist dieses nicht vorhanden, sei die Gefahr groß, dass Demotivation um sich greift. Im schlimmsten Fall führt das zur inneren oder sogar einer echten Kündigung.
Mitbestimmung – gerade bei den kleinen Playern immer wichtiger
Der Grund: Ohne Mitspracherecht fühlen sich Mitarbeiter nicht in Betriebsabläufe und Entscheidungen eingebunden. Doch gerade das ist bei kleineren Unternehmen ungemein wichtig. Hier agieren Mitarbeiter mehr und mehr als Micromanager in ihrem eigenen kleinen Bereich.
Um hier die richtigen Entscheidungen treffen zu können, müssen sie informiert werden:
- Wohin entwickelt sich das Unternehmen?
- Welche Ziele hat es?
- Wie kann die eigene Arbeit zur Erreichung der Visionen beitragen?
- Wie kann das eigene Team dazu motiviert werden?
Alternativen zum BR
Aber Moment, betont Lesch. Die Abwesenheit eines Betriebsrates bei inhabergeführten Betrieben gehe nicht zwangsläufig damit einher, dass die Partizipation von Beschäftigten in kleineren Unternehmen und im Mittelstand nicht stattfände. Sie findet in manchem Betrieb statt. Nur anders.
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„Früher war es oft so, dass der Inhaber im Sinne der ‚patriarchalische Führung‘ sich um seine Leute gekümmert hat und der Meinung war, dass er sich am besten um seine Mitarbeiter kümmert und es deswegen keines BR bedarf. Er hat den Mehrwert durch Partizipation also nicht gesehen“, sagt Experte Lesch. IPA-Geschäftsführerin Ursula Vranken ergänzt: „Bei der neuen Unternehmergeneration sieht das anders aus, da wird Partizipation von Mitarbeiterseite durchaus gerne gesehen, aber es gibt eine Tendenz, diese in eigenen Gremien oder Formaten, wie z.B. ein Mitarbeiter-Board, zu organisieren.“
Kulturrat: Flexibler als jeder BR
Eine verhältnismäßig junge Entwicklung, für die es aber einen triftigen Grund geben könnte: Dass sich in diesen Umfeldern zunehmend alternative Formen der Mitbestimmung etablieren, könne mit der unterschiedlichen Zielsetzung von BR und beispielsweise einem Kulturrat zusammenhängen. Lesch: „Generell stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage: muss ich alles nutzen was im Betriebsverfassungsgesetz geregelt wird? Gerade wenn die Gremien sich stärker mit dem Thema Innovation beschäftigen, ist ein Kulturrat oder ein Mitarbeiter-Board vielleicht flexibler.“
Der Gedanke ist alles andere als abwegig. Denn klassisch konzentriert sich der BR auf die Einhaltung von Arbeitnehmerrechten, nicht um Innovationsangelegenheiten. Dafür ist das Gremium nicht ausgerichtet. Es stammt schließlich aus einer Zeit, in der einer anordnete und alle anderen ausführten. Da liegt es nahe, dass moderne Unternehmen, die ihre Mitarbeiter strategisch und inhaltlich in die Gestaltung ihres Business integrieren wollen, eine Alternative Form der betrieblichen Mitbestimmung brauchen.
Alternative Form der betrieblichen Mitbestimmung: So funktioniert‘s
Doch wie funktioniert das? Ein Kulturrat bzw. Mitarbeiter- Board agiert als neutrales Sprachrohr zwischen Mitarbeitern und Geschäftsführung. Vom klassischen Betriebsrat unterscheidet er sich in mehreren Punkten: Zum Beispiel sehen Funktionsträger aus Bedenken vor Interessenskonflikten häufig von der Mitwirkung ab. Beim Kulturrat bestehen derartige Hürden nicht. Zu den Grundsätzen des Gremiums zählt, dass eine kritische, gute und auf Koalition bedachte Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitern und Geschäftsführung die aktive Beteiligung aller Bereiche und Ebenen einschließt.
Außerdem ist der inhaltliche Fokus nicht per Gesetz vorgeschrieben, sondern frei definierbar. Mögliche Themenfelder können sein:
- Mitarbeiterzufriedenheit
- Personalentwicklung
- Gesundheitsmanagement
- Innvoationsmanagement
- New Work
Und: Der Kulturrat ist im Gegensatz zum BR genau auf ein Unternehmen zugeschnitten und permanent wandelbar. Er bildet die Bedürfnisse der verschiedenen Ebenen somit immer passgenau und zuverlässig ab.
So entsteht der Kulturrat
Der Kulturrat entsteht in einem begleiteten Prozess mit Workshops und Coachings. In diesen klären externe Coaches mit allen Beteiligten, für welche Belange und Personen das Gremium als Ansprechpartner fungieren soll.
Um von Anfang an eine optimale Arbeitsweise sicherzustellen, werden zunächst unter Anleitung Aufgaben und Rollen aller Mitglieder erarbeitet und definiert. In einem moderierten Prozess werden dann gemeinsame Ziele definiert. Nach und nach entwickelt sich so ein einheitliches Selbstverständnis.
Aber um das einmal klar zu machen: Ohne BR gäbe es betriebliche Partizipationsformen wie den Kulturrat nicht. Der Betriebsrat hat für moderne Mitbestimmungsgremien den Weg bereitet. Doch nun darf er sich entspannt auf sein Altenteil zurückziehen. Verdient hat er sich‘s – nach so viel Vorreiterarbeit. Daher aus ganzen Herzen: Happy Birthday, BR!
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